4 Monate Tanztraining wurden jetzt auf die Probe gestellt. Das Spektakel des Jahres in Oruro stand vor der Tür. Wie Weihnachten, Ostern und Silvester einer Großstadt zusammen – so kann man sich ungefähr den zweitgrößten Karneval weltweit vorstellen. Wochen zuvor wird die Stadt auf den Kopf gestellt um sich von der besten Seite zu zeigen. Häuser und Bänke werden neu gestrichen; die Stadt zeigt sich plötzlich in einem satten Grün; das Müllproblem wird auf einmal ernst genommen und dagegen vorgegangen; Zimmerpreise steigen ums X-fache; die Straßen der Tanzstrecke werden bemalt und mit Tribünen zugepflastert. Man wird von der Nervosität und Vorfreude aller Orureños förmlich mitgerissen. Und glaubt mir, die Vorfreude war berechtigt, denn dieses Spektakel war einfach unbeschreiblich…
Geschichte – Was ist der Hintergrund des Karnevals? Warum wird er hier so intensiv gefeiert?
Hinter dem Karneval steckt eine uralte Legende, die ich kurz zusammenfassen möchte.Ein Teufel hat 4 Plagen nach Oruro geschickt:
- Die Kröten
- Den Kondor
- Die Schlangen
- Die Ameisen
Jede einzelne dieser Tierarten war übermenschlich groß und sorgte für eine riesige Verwüstung innerhalb Oruros. Daraufhin baten die Bewohner Oruros die Jungfrau Maria um Hilfe. Sie erhörte ihre Gebete und rettete das Volk. Maria bekehrte den Teufel und verwandelte diese Monster in „Unschädliches“. Schlangen, Kröten und der Kondor wurden zu Stein verwandelt, Ameisen zu Sand. Somit waren die Orureños Maria zu ewigem Dank verpflichtet. Zum Gedenken dieser Heldentat wird jedes Jahr das Fest des Karnevals für Maria veranstaltet.
Tänze
Es gibt 48 verschiedene Tänze. Jeder dieser Tänze hat eine gewisse Bedeutung oder einen speziellen Hintergrund.Sie werden allgemein in sogenannte „Conjuntos“ (Gruppen) eingeteilt. Diese Conjuntos werden wiederum in Untergruppen – „Bloques“ – zerlegt. Dadurch kann man sich schon ungefähr vorstellen, wie komplex alles strukturiert ist und wieviele TänzerInnen hier teilnehmen. Offizielle Zahlen findet man nur schwer, man spricht von ca. 25.000 – 35.000 Tänzer.Dazu kommen noch ca. 10.000 Musikanten in mehr als 150 Kapellen und zwischen 250.000 und 300.000 Zuschauer. Somit kann der Karneval auch schon losgehen.
Wie sind wir zum Tanzen gekommen?
Unsere Organisation (Complejo Solar Oruro) hat sich in den Komplex einer Belgischen NGO namens SENTEC eingemietet. Dort arbeitet ein mittlerweile sehr guter Freund von uns. Gregorio tanzt bereits seit Jahren begeistert beim Karneval mit und lud uns eines Tages zum Tanztraining ein. Da im Prinzip alle Tanzgruppen froh darüber sind, wenn „Extranjeros“ in ihrer Gruppe tanzen, wurden wir sofort herzlichst aufgenommen. So nahm alles seinen Lauf und wir wurden zu Spitzentänzern ausgebildet 😉
Unsere Tanzgruppe (Bloque) nennt sich übrigens TINKUS WASKAS und befindet sich in der Hauptgruppe (Conjunto) TINKUS HUAJCHAS.
- Conjunto: Tinkus Huajchas
- Bloque: Tinkus Waskas
Tanztraining
Ende Oktober fingen unsere Proben an – eher gemütlich, immerhin hatten wir ja noch mehr als 3 Monate Zeit bis zur Fiesta des Jahres.In den ersten „Ensayos“ spürten wir wieder deutlich, dass wir uns nicht in Österreich befinden, sondern auf dem Altiplano – sprich: knapp 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Neben Sauerstoff fehlte uns allerdings noch etwas nicht sehr Unwesentliches: das bolivianische Tanzgefühl. So überholten uns oftmals bolivianische Neueinsteiger beim Erlernen der Tanzschritte.Doch die aufbauenden Worte unserer Tanzlehrer hielten uns vom Verzweifeln ab. Dadurch blieben wir immer mit voller Begeisterung dabei.Von Oktober bis Dezember tanzten wir ca. 2-3 Mal die Woche – jeweils 1,5 Stunden. Nach den Weihnachtsferien wurde das Ganze deutlich verschärft: 4-5 Proben jede Woche brachte andere Freizeitaktivitäten zum Einfrieren.Aus verzweifelten Versuchen den „Guias“ die perfekten Körperbewegungen nachzuahmen, entwickelte sich im Laufe der Zeit etwas, mit dem ich mich schon fast anzugeben traue :DViel wichtiger als das fehlerlose Tanzen ist aber die Gemeinschaft, in die wir dadurch aufgenommen wurden. Solch eine Erfahrung kann man nicht machen, wenn man der klassische „Touri“ ist. Es würde sowohl an Zeit als auch am Zugang fehlen. Da ein Großteil unser ca. 50-köpfigen Tanzgruppe in unserem Alter ist, verstehen wir uns alle sehr gut und konnten schon viele gute Freunde finden.
Tracht
Jeder der knapp 50 Tänze hat eine eigene, meist sehr spezielle Tracht. Diese gehen von Vollmaskierung über fast keine Maskierung (halb nackt), bis hin zu einfach nur bunt und auffällig. Durch die Tracht wird versucht, die Bedeutung der Tänze zu erklären oder bildlich darzustellen.In unserem Fall (der Tanz heißt Tinkus) wird durch den „Schutzhelm“ ein Kampftanz symbolisiert.Ein anderes Beispiel ist der Tanz Morenada, der sich auf die Sklaverei bezieht. Darum ähneln die Bewegungen der Tänzer stark daran, als wären sie mit Fesseln gefangen.Genug der vielen Worte, ich glaube, am einfachsten lässt sich das Ganze mit Bildern erklären.
Unser Outfit – Tinkus Waskas
Die Tracht unseres Bloques besteht aus stolzen 24 Einzelteilen.Wie oben schon beschrieben, ist ein Teil unserer Tracht ein Helm – zumindest für alle männlichen Tänzer, Mädchen tragen Hüte. Diesen Helm kann jeder so gestalten, wie er möchte. Da wir keine Ahnung hatten, wie sowas auszusehen hat, baten wir uns unseren Freund Gregorio um Hilfe. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Man beachte insbesondere das angebrachte Special: die Österreich-Fahne am Federbeginn.
Vom Kopf abwärts folgt ein einfaches, schwarzes Polo und eine weiße Jacke, aufwändig bestickt und glitzernd verziert , u.a. mit dem WASKAS-Logo am Rücken. Was tut man nicht alles, um in der Menge aufzufallen. Um die Schultern hängt man sich die sogenannte „Honda“ (ursprünglich: Steinschleuder). Diese wird als Peitsche benützt, um lästige Betrunkene fern zu halten.Die knallrote Hose erinnert ein bisschen an Santa, gemütlich ist sie allemal. Um die Hüften bindet man sich möglichst viele „Chalinas“. Alle in Handarbeit gemacht, darum muss man für einen Original-Schal schon etwas tiefer in die Geldtasche greifen. Auf die Unterschenkel kommen noch warme, weiße Wollsocken und Stutzen. Die Schlapfen im Römer-Stil werden aus einfachen Autoreifen und Riemen auf der Straße hergestellt und sind erwartet unangenehm zum Tanzen. Theoretisch ist das Kaufen dieser Schuhe also sehr unkompliziert. Als ich allerdings Größe 46 bestellen wollte, einigten wir uns auf eine Sonderanfertigung bis kommende Woche. :DIch bin stolz, Besitzer einer solch besonderen Tracht zu sein und kann es kaum erwarten, diese zu Hause meiner Familie und Freunden zu zeigen. Übrigens: mein nächstes Faschingskostüm habe ich auch schon 😉
Das große Wochenende
Es staut in den Straßen Oruros, es wimmelt von Touristen, an jeder Ecke stehen Polizisten und alle Hotels sind randvoll – der Karneval hat begonnen.
Samstags (6. Februar 2016) beginnen die ersten Tanzgruppen um 9 Uhr in der Früh. Bejubelt von tausenden Zuschauern steigt die Motivation jedes Einzelnen und man kann die Euphorie in den Gesichtern der Tänzer ablesen. Die Dimension der scheinbar nicht endenden Tanzkolonne ist unvorstellbar und lässt mich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nach stundenlangem Beobachten tausender Tänzer kehrten wir in unser Departamento zurück, um uns das erste Mal in unsere Tracht zu werfen. Die Lust zum Feiern, zum Tanzen, einfach nur Spaß zu haben, stieg ins Unermässliche und wir konnten es kaum mehr erwarten, auf die „Piste“ zu gehen.
Mit mehr als 4 Stunden Verspätung, kurz vor Mitternacht, begann unser großer Auftritt. Die Tribünen waren zwar schon leicht gelehrt, dennoch verminderte es die Fiesta keineswegs. Ihr müsst wissen, dass Tinkus einer der wenigen Tänze ist, deren Tanzparts mit richtig viel Bewegung verbunden sind. Das heißt, das Publikum wird automatisch animiert aufzustehen, mitzutanzen und uns anzufeuern. Diese Begeisterung hat man auch dringend nötig, wenn man um 03:30 Uhr in der Früh nach 3,5 Stunden Tanzen mit nur wenigen Pausen zur Plaza kommt und sich nochmal die Seele aus dem Leib tanzen muss.
Schlussendlich kamen wir um 4 Uhr morgens bei der Kirche an. Da der Karneval ein sehr religiöses Fest ist, folgt nach dem Tanz ein verpflichtender Kirchenbesuch. Völlig erschöpft betraten wir die Kirche in spanischem Baustil und knieten uns wie alle anderen auf den Fliesenboden. Somit beginnt das betende Pilgern in Richtung Marienstatue.Da der Jungfrau Maria nie der Rücken zugewandt werden darf, ging es für uns auch rückwärts aus der Kirche hinaus – und direkt in unser Bett, dass wir schon mehr als dringend notwendig hatten.
Viel Zeit zum Ausruhen hatten wir nicht, denn am Sonntag waren die WASKAS zeitig in der Früh an der Reihe und so eilten wir zum Beginn der Tanzroute um unser Können den zahlreichen Fans erneut zu präsentieren ;)Von den ca. 40 Gruppenmitgliedern schafften es aber nur ungefähr 15 aus dem Bett. Also begannen wir mit unserem letzten Auftritt in leicht verminderter Anzahl. Im Laufe der Tanzparade fanden Gott sei Dank noch einige mehr den Weg zu uns und schlussendlich konnten wir den zweiten Tag fast vollzählig zur Mittagszeit beenden.Nach kurzer Schlafpause feierten wir noch bis spät in die Nacht und somit ging eine der größten Erfahrungen meines Lebens zu Ende.
Hasta luego
Christoph
Andrea
Toller Beitrag Christoph!
Viele Grüße aus Kärnten
Andrea & Werner
Christoph
Vielen Dank.
Müssen euch ja auf den laufenden halten 😉
Cordialmente
Tante C
Hallo liebster Christoph! Ich bin schon sehr nachlässig – hab erst jetzt Zeit gefunden, deinen wunderbaren Beitrag vom Karneval zu lesen. Deine Beiträge lesen sich immer wie ein spannendes Buch, bei dem man absolut nicht mehr aufhören kann. Und die vielen bunten Farben – Wahnsinn. Du musst mir unbedingt einen Tanz lernen, wenn du wieder da bist – vielleicht können wir den irgendwie beim Line Dance gebrauchen. Ich finde es einfach nur g e i l, was ihr Drei da so alles erleben dürft. Danke, dass du uns immer am Laufenden hältst, ich freu mich echt, wenn´s dir gut geht und du Spaß hast.\r\nSei aus der Ferne ganz toll gedrückt, Bussi, Tante C und Onkel Heinz
Christoph
Hallo\nJa der Karneval war echt der Wahnsinn. Müssten wir auf Österreich übertragen ;)\nLässt sich sicher einrichten (wenn ich die Tänze bis dort hin nicht schon wieder vergessen habe)…\nTanztraining ist aber dann in Spanisch, also kannst schon mal zum Lernen anfangen ;)\n\nLiebe Grüße aus dem immer sonnigen und sauerstoffarmen Oruro\nChristoph
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